Das Phantom namens PIRA – Die stille Progression🕵️

Nr. 24

Das Phantom namens PIRA – Die stille Progression🕵️

Es war ein ungewöhnlich stiller Tag in der Baker Street. Kein Schub, kein Alarm, nur ein dumpfes Gefühl – als ob etwas fortschritt, ohne dass man es kommen sah. Holmes kritzelte Formeln auf die Rückseite der Times, als plötzlich ein schmaler Umschlag auf meinem Schreibtisch landete. Darauf stand nur ein Wort: PIRA.

Ich hob eine Augenbraue. „Progression Independent of Relapse Activity“, murmelte ich. „Ein Verdächtiger, der kein Geräusch macht – aber tiefe Spuren hinterlässt. Klinische Verschlechterung ohne Nachweis von Schüben“.


🧠 Der Fall: Eine Krankheit, die sich leise verändert


Multiple Sklerose ist ein Chamäleon unter den Erkrankungen – sie kann laut und dramatisch sein, mit Schüben und sichtbaren Läsionen. Doch PIRA ist anders. Kein Fieber, kein Kontrastmittelblitz. Und trotzdem: Der Patient geht langsamer, denkt schwerer, lebt eingeschränkter.


Ein klassischer Fall von „Der Hund, der nicht gebellt hat“, wie Holmes es ausdrücken würde. Das Rätsel? Wie erkennen wir etwas, das sich bemüht, unsichtbar zu bleiben?


🔍 Spur 1: Die Magnetresonanztomographie


Ich begann mit dem Offensichtlichen – der Bildgebung. Doch das MRT war unbeeindruckt. Keine neuen Läsionen, kein Kontrastmittel, kein Aufschrei. Nur eine schleichende Hirnatrophie. Kaum messbar. Und doch verdächtig.

Ich studierte die langsamen Verformungen der periventrikulären Räume, durchforstete PRLs (paramagnetische Ringe) und suchte nach langsam vergrössernden Läsionen (slowly expanding lesions). Zeichen für chronisch aktive Prozesse. Doch auch sie flüsterten nur – keine klaren Beweise.


🔬 Spur 2: Die klinischen Tests


Dann wandte ich mich den Funktionstests zu: dem 25-Fuß-Gehtest, dem Neun-Loch-Stecktest, dem Symbol-Zahlen-Test – jene stillen Ermittlungsinstrumente, die kleine Veränderungen sichtbar machen sollen, noch bevor das große Alarmsystem (alias EDSS) reagiert.


Hier ein kaum merklicher Zeitverlust beim Gehen, dort ein zögerlicheres Hantieren mit den Stiften beim Stecktest. Im Symboltest? Ein paar Zeichen weniger korrekt zugeordnet – scheinbar unbedeutend.

Doch ich, Sherlock MS, traue solchen Details. Es war, als ob der Täter – nennen wir ihn PIRA – die Grauzonen unserer Diagnostik kannte. Er agierte dort, wo unsere Aufmerksamkeit nachlässt. Dort, wo wir zu schnell „noch stabil“ sagen – und zu spät „es hat sich verändert“.

„Der Teufel liegt im Detail“, pflegte Holmes zu sagen. Und genau diese Details waren es, die mich misstrauisch machten.


📈 Spur 3: Der Blick in den Liquor


Auch hier ließ ich nicht locker. Ich bat um Liquorproben – das Rückenmarkswasser, in dem sich die leisen Vorzeichen neurodegenerativer Prozesse spiegeln. Keine Lüge entkommt diesem Medium – zumindest nicht lange.


Im Labor ließ ich nach Neurofilament light chain (NfL) suchen, einem Biomarker für geschädigte Nervenfasern – quasi der Blutfleck am Tatort neuronaler Zerstörung. Dazu Glial fibrillary acidic protein (GFAP) – ein Zeichen für Aktivität der Astrozyten, dieser allzu oft unterschätzten Wächterzellen.

Die Werte? Erhöht. Aber nicht dramatisch. Noch keine grelle Sirene, eher ein nervöses Flackern der Alarmleuchte. „Nicht schuldig“, sagte der Bericht. Vielleicht. Vielleicht aber auch nur: „Noch nicht verurteilt.“


🩻 Spur 4: Die Augen als Fenster


Ich kontaktierte meine Kolleg:innen vom OCT-Labor – Optische Kohärenztomografie, ein ultrasensibler Scan, der Schicht für Schicht den Augenhintergrund durchleuchtet. Eine Art „Fenster zur Seele“ des zentralen Nervensystems.


Was sie mir übermittelten, ließ mich aufhorchen:
Die Nervenfaserschicht der Netzhaut war verdünnt, die Ganglienzellschicht mit den Nervenzellen in der Netzhaut zurückgegangen. Keine Katastrophe. Kein Schrei. Aber ein Flüstern – leise, fast überhörbar.


Wenn das Auge wirklich der Spiegel des Gehirns ist, dann war dieser Spiegel nicht nur beschlagen – sondern rissig. Ein feines Muster des Verfalls, kaum sichtbar für das ungeübte Auge – aber für mich, Sherlock MS, ein klarer Hinweis: Der Täter war noch da. Er hatte nur gelernt, im Schatten zu agieren.


🗃️ Die Akte wächst – aber der Verdacht bleibt diffus


Was ist PIRA also? Eine Mischung aus alternder Immunreaktion, schleichender Neurodegeneration, ungünstiger Mikrogliazusammenarbeit? Oder schlicht die Summe vieler kleiner Verluste, die sich in keiner Studie spektakulär präsentieren – aber im Alltag brutal wirken?

Holmes hätte gesagt: „Der Unterschied zwischen einem Lichtstrahl und einer Explosion liegt nicht in der Energie – sondern in der Richtung.“

PIRA richtet seinen Schaden gezielt – aber leise. Und unsere Aufgabe als Neurodetektive ist es, ihn früh zu entlarven.


🧾 Mein Fazit als Sherlock MS


  • PIRA ist kein Schatten. Es ist ein leiser Täter, der uns zwingt, besser hinzusehen.
  • Der Schlüssel zur Aufklärung liegt nicht in einem einzelnen Test, sondern in der klugen Kombination:
    • MRT-Bildgebung mit feinster Auflösung
    • Funktionstests, regelmäßig und exakt
    • Biomarker, die nicht nur Entzündung, sondern auch Substanzverlust abbilden
    • OCT als Frühwarnsystem
  • Und: Patientenzuzuhören – wirklich zuzuhören.

Der Fall ist nicht abgeschlossen. Aber er hat begonnen, sich zu zeigen.


Hochachtungsvoll,
Sherlock MS, Neurodetektiv & Spezialist für schleichende Prozesse